Google+ Julias Buchblog: Wolfgang Jeschke - Das Cusanus-Spiel

Montag, 7. November 2016

Wolfgang Jeschke - Das Cusanus-Spiel

Das Cusanus-Spiel
Wolfgang Jeschke
ISBN 9783426639580


Italien 2052: In einem Europa, das sich massiv gegen Außen abschottet und im Innern mit den Auswirkungen einer atomaren Katastrophe kämpft, ist der Alltag für die junge Botanikerin Domenica nicht einfach. Da kommt ein Jobangebot des Vatikans wie gerufen, auch wenn alles sehr mysteriös klingt. Primär scheint es darum zu gehen, die Artenvielfalt zu schützen. Die dafür nötigen Samen und Proben zu sammeln, ist aber schwierig, denn mit der zunehmenden Erwärmung und der Strahlung hat sich die Pflanzenwelt drastisch verändert. Die Lösung ist überraschend: Domenica soll ins ausgehende Mittelalter reisen, in eine Zeit, wo die Umwelt noch unbelastet ist...

Wolfgang Jeschke wirft den Leser von der ersten Seite an in ein düsteres Setting. Erst faszinierend, war es für mich später etwas zu viel des Guten bzw. Schlechten: massive globale Erwärmung, die Abschottung Europas gegen die dadurch ausgelösten Migrationsströme, das Aufkommen eines neuen Faschismus, gentechnisch hochgezüchtete Mutanten, eine größere atomare Katastrophe, außer Kontrolle geratene Nanotechnologie, ein riesiges Ozonloch - irgendwann wurde die Lektüre zum munteren Rätselraten, welches Katastrophenszenario der Autor als nächstes aus dem Hut zieht. Und manches ist für die Geschichte gar nicht relevant, sondern scheint einfach der Lust des Autors an dramatischen Kulissen geschuldet, überfrachtet die Geschichte aber unnötig. Generell hätte etwas mehr Straffung und Stringenz dem Roman gut getan, denn so schön die vielen Beschreibungen sprachlich sind, erschweren sie doch das Vorankommen der Geschichte, zudem stimmt dann oft das Gesamtbild nicht mehr. Das zeigt sich auch gut bei der Protagonistin, die diverse Brüche bei der Figurenzeichnung aufweist, die mehrheitlich darauf zurückzuführen sind, dass der Autor offenbar kein Gespür für geschlechtsspezifische Nuancen hat. Domenica wird zwar als junge naive Frau aus gutbürgerlichem Haus beschrieben, handelt in Einzelheiten dann aber oft ganz anders. Und sie agiert oftmals unglaublich unbedarft und ist letztlich noch viel zu wenig reif für ihre Zeitreise, so dass eigentlich von vornherein klar ist, dass das schiefgehen muss. Das hätte eigentlich auch ihren Vorgesetzten, sicher aber ihrem Liebhaber auffallen müssen. Und dann ist da noch das übliche Zeitreisen-Problem. Zwar hat Wolfgang Jeschke diesmal einen anderen Ansatz gewählt als beim Letzten Tag der Schöpfung, aber diverse Widersprüche und Logikprobleme bleiben auch hier nicht aus.

Aber auch diesmal gehen diese Mängel unter in einem Feuerwerk an Ideen und wortgewaltigen Schilderungen. Sprachlich ist der Roman streckenweise einfach grandios und überzeugt durch einen unglaublichen Detailreichtum. Die Szenerien sind so gut und plastisch beschrieben, dass es ein Vergnügen ist, Domenica beispielsweise bei einem Spaziergang durch Venedig zu begleiten, unabhängig von der Geschichte. Und die verschachtelte Erzählstruktur gibt dem Leser Zeit und Raum, um im Kopf gleich ein halbes Dutzend Welten entstehen zu lassen. Etwas Konzentration und Durchhaltewillen braucht es allerdings, denn bei flüchtiger Lektüre entgehen einem die schönsten Szenen.

Fazit: kein Science-Fiction-Roman im klassischen Sinn, aber eine Wundertüte, wenn man bereit ist, sich auf ein ungewöhnliches Buch einzulassen.

1 Kommentar:

  1. Hm, ich glaube, danach würde ich erstmal eine Woche nicht mehr aufstehen, so viele Horrorvisionen, wie du aufgezählt hast.

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